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Es gibt im Geiste keinen absoluten (selbständigen) oder freien Willen; sondern der Geist wird zu diesem oder jenem Wollen von einer Ursache bestimmt, welche ebenfalls von einer anderen bestimmt wird und diese wiederum von einer anderen, und so weiter bis ins Endlose.

baruch de spinoza, Die Ethik. Zweiter Teil. Achtundvierzigster Lehrsatz. (1)

Manchmal, unverhofft, zeigt sich die Immer-Blüte in einem Bestimmten; zeigt sich in diesem Bestimmten als ein unvermittelt Gewisses von unerbittlicher Wirklichkeit und zuweilen erschreckender Tiefe; zeigt sich augenblicks-entsprechend in dieser Tiefe und begeht Alltäglichkeit, schenkt sich ein, wird ein Bemerktes, ist spürbar da. Das eine Mal kurz und ein jedes nur berührend, es dünnhäutig und beinahe kärglich streifend, seine Fahrt annehmend, seine Fahrt fahrend, und diese Fahrt, angetan mit dem leisen Gewicht eines auf ein Sandkorn geschriebenen Liebesbriefes, auskostend. – Ein anderes Mal zeigt sich die ImmerBlüte schwer, breit, das Getragen-Sein tragend und als ein zur Erde hin gedeutetes, in die Länge gesagtes Verweilen, unabsehbar zu einem sich Auswirkenden gestrickt, das sich zu Träumen von Träumen verzweigt. – Wieder ein anderes Mal geschieht das Gesicht des plötzlichen Erscheinens, das die Immer-Blüte ist, wie als eine Bestrebung zum eigenen Gegenteil hin; als könnte der Augenblick, aus dem dieses Gesicht hervorgeht, ein verbleibend unvollständiger und mangelhafter sein, und alles an ihm müsste unablässig zu einem Schwindenden und Auseinanderfallenden werden, um nichts als nur flüchtige Worte auf die Wege der Welt zu schreiben. – Dann wieder kommt das, in dem die Immer-Blüte da ist, gleich einem sich vor sich versteckenden Entwurf in die Welt, und ihr Antlitz kehrt als eine Verkleidung des sich in diesem Entwurf Zeigenden ein: in die unerwartete Nacktheit des ganz Anderen gewandt und als ob sich neckend, um ein Neues „hervorzulocken“. Dem folgend entfaltet sich die Immer-Blüte vielleicht als ein Echo aus der Macht des sich in ihr schreibenden Pulses und kommt als der Widerhall eines gewaltigen Sturmes von Gedankenbildern, die sich gleich einem durch den Raum der Gefühle rinnenden Schatten im alltäglichen Tanz ineinander verwirbeln. – Und dem folgend geht sie als ein Anderes aus sich hervor; und diesem folgend abermals als ein Neues ... Die Immer-Blüte ist die Blüte der Wahllosigkeit. Sie geht unablässig auf ihre eigene Gestalt zu, indem sie ihre Gestalt findet und ihre Gestalt ist. So tritt sie in sich ein, indem sie sich (wehrlos gegenüber dem Ruf) aus der Möglichkeit, an sich da zu sein, hervorruft. Wenn ein Name fällt, ist sie da, weil ein Name fällt. Wenn Sturm aufkommt, ist sie da, weil Sturm aufkommt. Wenn Glas zerspringt, ist sie da, weil Glas zerspringt. Wenn Vögel singen, ist sie da, weil Vögel singen ... Sie geht als fließendes Wasser mit fließendem Wasser, geht zitternd, duftend, als ob bedürftig, als ob unbedürftig, als ob ungewiss, ungewohnt, friedlich-freudig, windwerfendwindgeworfen, wild ... Und mitunter, als bräuchte sie einen Anlass (doch es ist da kein Anlass: es ist da nur die Möglichkeit und die Freude an der Möglichkeit), kommt die Immer-Blüte auch als die große Meeres-Stille des Gemütes in den Körper des Menschen und spricht dort ihren Namen, um ihn zu hören. Sie spricht diesen Namen als ein Lauschendes zu einem Lauschenden hin, und sie spricht ihn in einer Sprache, die wie ein Schweigen klingt. – Die Bewegung des Gemüsemessers, das in der Hand der Köchin ein Salatherz berührt, hält, wenn dem so geschieht, inne, und die rote Ampel an der nächsten Straßenkreuzung wird zu einem Hafen für die alle Tage fahrenden Gedankenschiffe der Sehnsucht. – Dort, wo es geschieht, zeigt das Allergewöhnlichste sich als ein Unsägliches: Der über die Schwelle des Haustores und auf das Kopfsteinpflaster rollende Reifen des Kinderwagens singt Großes und schon der Enter-Knopf der unter den Händen liegenden Computertastatur kann in diesem von Maßlosigkeit schwangeren Schweigen zu einem neu zu entdeckenden Land werden, zu einer tausendmal beschrittenen und dennoch ungekannten Welt, die alleine entsteht, weil die Kuppe des Ringfingers ihn unvorbereitet berührt. – Alles, was da ist, verliert in diesem Zwischenraum den Anschein des Geringen und leuchtet. – Da sind die Lastseile der Baukräne. Am Ende eines jeden findet sich der Zirkelpunkt, der auf die Mitte der Welt weist, und vielleicht mitten im Blick auf die Uhr wird der Boden unter den Füßen wieder zum Boden unter den Füßen – tragend und getragen – als ein einziges Festes und Fließendes in Einem unmissverständlich spürbar. – Wo immer der Atem-Holende sich dann auch befindet, ist er auf eine natürliche und unangestrengte Weise bei sich. Was immer in ihm auch gegenwärtig wird, tritt dann als ein Einzigartiges in ihm hervor und entspannt sich zum Raum, in dem es da ist. Als Gefügtes. Als (sich) Fügendes. Als Fügung. Sein Auge und sein Ohr und sein Wissen und sein Fühlen und alles, was an ihm Festigkeit, Duft, Geruch, Geschmack, Bewegung, aufspürbares, erfühlbares Zeugnis – alles, was an ihm Sinn ist, wird leer. – Wird leer und damit voll. Wird leer und damit voll, denn es gibt keinen Zweifel für das leere Auge. Es schaut in ihm ledig dies, was da ist, auf ledig dies, was da ist. Und dies, was da ist, ist Bewegung und es ist in ihr still. Die Bewegung ist das Anschauende. Die Bewegung ist das Angeschaute. Die Bewegung ist das Anschauen. Sie ist ein ganz und gar einfaches, unablässig sich zeigendes, namenlos durchflutetes Geleitet-Sein. In jedem und für jedes. Als Ruhe und als Bewegung. Als hörbare und als unhörbare Stille. Als das, was die stille Bewegung ist. Als dies, was die Stille ist. Als dies, was die Stille der Stille ist: Nun. Eintretend. Gegeben. Da. Mit. – Alles und jedes kann in der Bewegung der Gegenwart ein reiner Spielraum werden, um in der Bewegung der Gegenwart ein reiner Spielraum zu sein. Ein jedes Wort kann zu jedem Wort werden. Ein jeder Platz kann zu einem Ort werden. Eine jede Tür kann eine Tür werden, um so in sie einzutreten, dass alle Sorgen hinter ihr zurückbleiben. – Vielleicht ist die Stunde, in der dies, was da ist, mit einem Mal (und wie zum ersten Mal) zur Ruhe gekommen, sich selbst begrüßt, eine ganz und gar gewöhnliche Stunde. Vielleicht ist es die erste Morgenstunde. Vielleicht ist es die letzte Abendstunde. Vielleicht ist es die Stunde der alltäglichen Kaffeepause nach dem Essen an einem der geradeeben ausklingenden Tage des Winters, und mit dem, was als ob über die Augen nun Wahrnehmung wird, ist da auch schon der Gedanke an den Frühling, und im Haus und um das Haus ist es für eine Zeit lang sehr still. – Möbel knarren; Atem geht; Vogelstimmen heben an und verlöschen ineinander, um neu anzuheben, anders anzuheben; Geräusche fallen tropfend aus dem Raum in den Raum und die Bilder in den Augen und die Bilder hinter den Augen ruhen weich an den Rändern der Dinge. Der Blick, da er fällt, fällt vielleicht durch das Fenster und fällt vielleicht auf das Bild des Gartens und fließt dort eine Strecke von unaufgeregten Atemzügen entlang. Bis zur Ferne des Birkenbaums. Bis zur Nähe des Birkenbaums. Bis zur Mitte des Birkenbaums. Bis zum Ast-HimmelRhythmus. Bis zum Klang. Bis zum Raum. Bis zum schmelzenden Schlaf in den Gräsern ... Es kann sein, dass der Blick, der in den Augen ist, gemeinsam mit dem Blick, der im Fühlen ist, in diesem Schweifen auf einem Bestimmten liegen bleibt; und es kann sein, dass es ist, als ob die offenen Augen sich damit noch einmal öffnen: ... Das gelb trockene Bambusgras vor dem Zaun zum Nachbarhaus hin steht in Ruhe; steht in völliger Ruhe, als wäre alles, was an ihm ist und was sich in seiner Umgebung befindet, angehalten worden. Nichts rührt sich. – Plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, bewegen sich einige Blätter leicht, leise, nur von einem ganz klein Wenigen (und auch von diesem nur fast unbemerkt) angehaucht im Wind. – Dass dies geschieht, so wie es geschieht, kann die Erfüllung aller Wünsche sein, denn es vermag, als reine Gegenwart ankommend, ein Herz von aller Vergangenheit zu erlösen. – Ein aus der Vergangenheit entlassenes Herz ist ein freies Herz, denn es kennt keine Gegner. Es hat keinen Gegner. Es ist, weil es ein stilles Herz ist, frei für alles, und es kann sich immer und überall – augenblicklich – als das freie Herz, das es ist, erkennen, denn die Freiheit des Aufgebrochen-Seins in ein von Erinnerungen und Sehnsüchten ungefärbtes Erleben des Lebens (die Möglichkeit und die Kraft zur Erkenntnis dieser Freiheit) ist von vornherein in ihm angelegt. Sie teilt sich in jedem mit, das da ist. – Jedes fühlende Wesen liest sich in diesem, dem unverwechselbaren „Grundton aus Stille“, in dem der Augenblick aufgehoben und gekleidet und ausgebreitet und gehalten ist. Es liest sich in diesem Grundton schon durch die Stimmungen, schon durch die Ahnungen, schon durch die zartesten Kleinigkeiten, die immer nur scheinbar Kleinigkeiten (weil niemals nur Kleinigkeiten) sind, hindurch. – Der Widerspruch ist der Spruch des Lebens und er gilt in jeder Form, alles als Eines umarmend und sagend: Da ist eine schweigende Freude in allen Körpern. Sie befindet sich in keinem und befindet sich in allem, denn keines und alles – Nichts befindet sich in ihr. Nichts ist etwas in einem Körper. Nichts ist etwas in allen Körpern. Es spricht sich als das Ganze in ihnen aus, es teilt sich als das Ganze in ihnen mit, und es zeigt sich als das Ganze in einer alles lassenden, widerstandslosen Heiterkeit, in der jegliche Gegnerschaft erlischt. Denn: Wo etwa wäre die Kraft, die einem Lächeln widerstehen könnte? Es gibt niemanden, der es vermag, sich die Landschaft der allem innewohnenden Schönheit anzueignen, die sich in einem Lächeln auftut. Die Landschaft der allem innewohnenden Schönheit, die sich in einem Lächeln auftut, ist ein Spiegel. Sie ist die Landschaft der Schönheit, die zwischen jenem ist, der das Lächeln meint und jenem, dem das Lächeln gilt. Und diese Landschaft ist noch niemals gewesen. Und diese Landschaft ist noch niemals nicht gewesen. Sie ist immer, doch sie ist nicht immer da, denn sie ist ein Geschenk des Bewusstseins. Wartend. Auf keines. Klaglos auch die unerhörten Herzschläge einbekennend. – Denn der wirklich Lächelnde weiß, dass da niemand lächelt. Er kann spüren, dass dies, was er ist, als ein Lächeln beginnt (wenn ein Lächeln beginnt) und als ein Lächeln endet (wenn ein Lächeln endet). Er hat nichts als die Antwort und entdeckt in ihr alle Fragen, die nach (!) ihr möglich sind. – Dies ist die Sprache der Freude: zu fühlen, dass da ein Fühlen ist, das niemand fühlt. Mit dem ganzen Körper (und mit dem ganzen Leib) zu wissen: Es hat noch niemals geregnet. Es hat noch niemals die Sonne geschienen. Es hat noch niemals jemand geschwiegen. Es hat noch niemals jemand etwas gesagt. – Und: Es fällt Regen. Es scheint die Sonne. Da ist Rede und da ist Schweigen. Und niemand braucht es. – Was immer da ist, ist ein Stück Überfluss aus dem unerbittlichen Reichtum des Ganzen. Niemand will es. Niemand gibt es. Niemand nimmt es. Niemand hat es. – Da ist kein Ausweg. „Stille“ ist nur ein Wort. Dies, was die Stille ist, kennt keine Stille.

Roman Baumgartner Obergrafendorf, am 30. 03. 2008

Anmerkungen: (1) Aus: Spinoza, Die Ethik. Schriften und Briefe. Übertragen von Carl Vogl. Herausgegeben von Friedrich Bülow. Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1982.

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